Verwaltungsgericht Freiburg, Beschluss vom 27.04.2016, Az.: 4 K 1056/16
Leitsatz
Bei einem THC-Gehalt im Blut von weniger als 1 ng/ml steht grundsätzlich zumindest nicht mit für eine Fahrerlaubnisentziehung erforderlichen Gewissheit fest, dass der Betreffende zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet und ihm deshalb die Fahrerlaubnis zu entziehen ist.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Fahrerlaubnisentziehung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2016 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
1. Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2016 (unter I.) ausgesprochene Entziehung seiner Fahrerlaubnis ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Soweit der Antrag sich auch gegen die Verpflichtung zur Ablieferung seines Führerscheins und die angedrohte Wegnahme des Führerscheins (unter II. und V.) richtet, ist er hingegen unzulässig (geworden), weil sich aus den Akten ergibt, dass der Antragsteller seinen Führerschein inzwischen bei der Antragsgegnerin freiwillig abgegeben hat.
2. Soweit der Antrag zulässig ist, ist er auch begründet. Denn das private Interesse des Antragstellers, vorläufig weiter im Besitz der Fahrerlaubnis zu bleiben und ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr führen zu dürfen, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung im angegriffenen Bescheid. Dies folgt daraus, dass bei einer Prüfung der Sach- und Rechtslage Überwiegendes dafür spricht, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die Fahrerlaubnisentziehung deshalb erfolgreich sein wird, weil nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststeht, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist.
Nach den §§ 3 Abs. 1 StVG und 46 Abs. 1 und 3 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Nach Nr. 9.2.2 in Verbindung mit der Vorbemerkung Nr. 3 der genannten Anlage 4 ist hinsichtlich der Kraftfahreignung bei der Einnahme von Cannabis zu differenzieren. Bei regelmäßiger Einnahme ist die Kraftfahreignung ohne Hinzutreten weiterer Voraussetzungen zu verneinen, während ein Kraftfahrer, der gelegentlich Cannabis einnimmt, im Regelfall nur dann als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist, wenn keine Trennung zwischen dem Konsum von Cannabis und dem Führen von Fahrzeugen erfolgt oder wenn zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen oder eine Störung der Persönlichkeit oder ein Kontrollverlust vorliegen.
Bei dem Antragsteller kann nach dem gegebenen Sachverhalt allenfalls eine Ungeeignetheit zum Führen von Fahrzeugen wegen gelegentlichen Cannabiskonsums in Betracht kommen. Allerdings spricht nach Auffassung der Kammer Überwiegendes dafür, dass bei dem Antragsteller nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststeht, das heißt, dass in seinem Fall nicht der Nachweis dafür erbracht ist, dass ihm Fähigkeit fehlt, zwischen dem (gelegentlichen) Konsum von Cannabis und dem Führen von Fahrzeugen zu trennen. Im vorliegenden Fall wurde der Antragsteller am 24.12.2015, um 02.00 Uhr, im Rahmen einer Verkehrskontrolle beim Führen eines Kraftfahrzeugs angetroffen. Die kontrollierenden Polizeibeamten stellten laut der von ihnen erstellten Mitteilung beim Antragsteller Auffälligkeiten in Bezug auf vorangegangenen Drogenkonsum in Form von Lidflattern, geröteten Augen, leichtem Horizontalnystagmus, stark erweiterten Pupillen sowie trägen Lichtreaktionen fest. Die Untersuchung einer um 02.59 Uhr entnommenen Blutprobe ergab laut Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Frankfurt vom 13.01.2016 den Nachweis von 0,69 ng/ml THC und 5,6 ng/ml THC-Carbonsäure; drogentypische Einflüsse seien bei der Blutentnahme ärztlicherseits nicht festgestellt worden.
Soweit die Antragsgegnerin aus diesen Erkenntnissen auf das Unvermögen des Antragstellers schließt, zwischen Drogenkonsum und Führen eines Fahrzeugs zu trennen, dürfte das mit den rechtlichen Vorgaben nicht in Einklang stehen. Nach der ganz überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, der die Kammer seit Langem folgt (vgl. u. a. Beschluss vom 16.12.2014 - 4 K 2535/14 -) ist ein fehlendes Trennungsvermögen dann anzunehmen, wenn der gemessene THC-Gehalt im Blutserum den Risikogrenzwert von 1,0 ng/ml erreicht oder überschreitet (vgl. zum Begriff des Risikogrenzwerts u. a. BVerwG, Urteil vom 23.10.2014, a.a.O.). Bei einem THC-Gehalt von weniger als 1 ng/ml steht grundsätzlich zumindest nicht mit der für eineFahrerlaubnisentziehung erforderlichen Gewissheit fest, dass der Betreffende zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist und ihm deshalb die Fahrerlaubnis zu entziehen ist. Diese Grenzziehung für die Bejahung eines fehlenden Trennungsvermögens beim gelegentlichen Konsum von Cannabis hat durch das zuvor genannte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.10.2014 eine weitergehende Bedeutung erlangt als zuvor. Denn aus den Gründen dieses Urteils geht hervor, dass damit nicht die Grenze eines noch hinnehmbaren Cannabiskonsums markiert ist, ab der mit Gewissheit eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit anzunehmen sei, sondern ab (erst) die Möglichkeit einer cannabisbedingten Beeinträchtigung der Fahrsicherheit bestehe. Danach sei bei der Bestimmung eines im Rahmen der Nr. 9.2.2. der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung maßgeblichen THC-Grenzwerts darauf abzustellen, ab welchem THC-Wert eine cannabisbedingte Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit möglich ist oder - negativ formuliert - nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Danach spricht Überwiegendes dafür, dass ein THC-Wert unter 1 ng/ml zu der Annahme berechtigt, dass die Möglichkeit cannabisbedingter Beeinträchtigungen als
ausgeschlossen gelten kann.
Etwas ergibt sich hier voraussichtlich auch nicht unter Berücksichtigung der von den Polizeibeamten in ihrer Mitteilung vom 24.12.2015 festgehaltenen Auffälligkeiten beim Antragsteller. Denn diese Auffälligkeiten stellen jedenfalls nicht derart erhebliche drogenkonsumtypische Ausfallerscheinungen dar, dass sie trotz der Tatsache, dass der Risikogrenzwert von 1,0 ng/ml THC im Blut beim Antragsteller deutlich unterschritten war, ausnahmsweise und ohne Weiteres die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigten bzw. sogar geböten (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22.11.2012, a.a.O., m.w.N.). Ob diese Auffälligkeiten zu Zweifeln an der Kraftfahreignung und damit zur Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung berechtigt hätten (was angesichts der im vorstehenden Absatz wiedergegebenen Ausführungen im Urteil des BVerwG’s vom 24.10.2014, a.a.O., eher fraglich [geworden] sein dürfte), kann hier dahingestellt bleiben, weil die Antragsgegnerin diesen Weg der weiteren Aufklärung von Eignungszweifeln nicht gewählt hat (vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 02.10.2014 [a.a.O.], in dem - jedenfalls noch vor Erlass des Urteils des BVerwG‘s vom 24.10.2014 [a.a.O.] - die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung in einem Fall für denkbar gehalten wurde, in dem allerdings deutlichere und sogar noch zwei Stunden und 45 Minuten nach der Fahrt feststellbare drogentypische Einflüsse gegeben waren).
Auch die Begründung der Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid, aufgrund des gemessenen THC-Werts von 0,69 ng/ml in dem knapp eine Stunde nach der Verkehrskontrolle entnommenen Blut des Antragstellers sei davon auszugehen, dass der THC-Gehalt bei Fahrtantritt mindestens 1 ng/ml betragen habe, rechtfertigt den Schluss auf eine dadurch feststehende Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Denn in Rechtsprechung und Literatur ist es allgemein anerkannt, dass der Abbau von THC im Unterschied zu Alkohol von vielfältigen individuellen physiologischen, psychologischen und sonstigen Faktoren abhängig ist und damit einer großen Schwankungsbreite unterliegt und dass eine zuverlässige, rechtlich belastbare Rückrechnung gemessener THC-Konzentrationen auf Zeiten vor der Blutentnahme danach nicht möglich ist. Auch die Antragsgegnerin hat diese Argumentation in ihrer Antragserwiderung nicht mehr in den Vordergrund gestellt.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 und 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.