Simone Fischer Rechtsanwältin
Simone FischerRechtsanwältin

Kindeswohl und gemeinsame Sorge: Bundesgerichtshof, Beschluss v. 15.06.2016, Az.: XII ZB 419/15

Leitsatz

 

1. Auch bei der "negativen" Kindeswohlprüfung nach § 1626a Abs. 2, S. 1 BGB ist vorrangiger Maßstab für die Entscheidung das Kindeswohl. Notwendig ist die umfassende Abwägung aller für und gegen die gemeinsame Sorge sprechenden Umstände. Dafür gelten die zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB entwickelten Grundsätze.

 

2. Erst wenn sich nach erschöpfender Sachaufklärung nicht feststellen lässt, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht, ergibt sich aus der negativen Formulierung der Kindeswohlprüfung die (objektive) Feststellungslast dahin, dass im Zweifelsfall die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Eltern gemeinsam auszusprechen ist.

 

3. Gründe, die der gemeinsamen elterlichen Sorge im Sinne von § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB entgegenstehen können, sind bereits dann gegeben, wenn sich aus den dem Gericht dargelegten oder sonst ersichtlichen konkreten tatsächlichen Anhaltspunkten die Möglichkeit ergibt, dass die gemeinsame elterliche Sorge nicht mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Unbeachtlich sind dagegen Umstände, die keinen Bezug zum konkreten Fall oder dem Wohl des Kindes aufweisen.

 

4. Zur persönlichen Anhörung des Kindes im Sorgerechtsverfahren.

 

Tenor

 

Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des 4. Senats für Familiensachen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. August 2015 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Wert: 3.000 €

 

Gründe

 

A.

 

Der Antragsteller begehrt die gemeinsame elterliche Sorge mit der Antragsgegnerin für die am 3. September 2009 geborene gemeinsame Tochter L.  .

Der Antragsteller (im Folgenden: Vater) und die Antragsgegnerin (im Folgenden: Mutter) lebten bis 2012 in nichtehelicher Lebensgemeinschaft. Aus dieser ist neben der betroffenen Tochter ein im Jahr 2000 geborener Sohn hervorgegangen. Für den Sohn, der beim Vater wohnt, üben die Eltern das Sorgerecht gemeinsam aus. Für ihre Tochter haben sie keine Sorgeerklärungen abgegeben.

Das Amtsgericht hat die Eltern persönlich angehört. Es hat einen Verfahrensbeistand bestellt, diesen wie auch das Jugendamt angehört und sodann den Antrag des Vaters zurückgewiesen. Auf dessen Beschwerde hat das Oberlandesgericht im schriftlichen Verfahren ohne persönliche Anhörungen der Beteiligten die elterliche Sorge für das Kind den Eltern gemeinsam übertragen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin.

 

B.

 

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.

 

I.

 

Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

 

Voraussetzung der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge auf beide Eltern sei nach § 1626a Abs. 2, S. 1 BGB, dass die Übertragung dem Kindeswohl nicht widerspreche. Aus der doppelten Verneinung ergäben sich die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die negative Kindeswohlprüfung. Die gemeinsame elterliche Sorge sei anzuordnen, wenn keine Gegengründe festgestellt werden könnten. Damit habe der Gesetzgeber eine widerlegliche Vermutung eingeführt, die für die Kindeswohldienlichkeit der gemeinsamen elterlichen Sorge spreche, wenn ein Elternteil durch seinen Antrag zu erkennen gebe, dass er die gemeinsame Sorge vorziehe. Diese Vermutung dürfe durch Ermittlungen von Amts wegen nicht beeinträchtigt werden. Zwar müsse das Gericht Anhaltspunkten, auch aus Quellen außerhalb des Vortrags der Beteiligten, die gegen die gemeinsame Sorge sprechen, nachgehen. Ermittlungen, die auf Tatsachen gerichtet seien, die für eine gemeinsame Sorge sprechen, müssten aber nicht durchgeführt werden. Die vor Einführung des Antragsrechts des Vaters vertretene Auffassung, es gebe weder eine rechtlich noch eine tatsächlich begründete Vermutung für den Vorrang der gemeinsamen Sorge vor der Alleinsorge, könne sich dagegen nicht mehr durchsetzen. Der Vortrag der Antragsgegnerin, des Verfahrensbeistands und des Jugendamts sei nicht geeignet, die Vermutung der Kindeswohldienlichkeit der gemeinsamen Sorge zu widerlegen. Zur Erschütterung der Vermutung geeignete Gesichtspunkte für ungünstige Auswirkungen auf das Kindeswohl und eine günstige Prognose der Alleinsorge der Antragsgegnerin ließen sich dem Vortrag der Beteiligten nicht entnehmen. Es sei nicht zu erwarten, dass durch eine Ablehnung der gemeinsamen Sorge die derzeit offensichtlich unzulängliche, dringend verbesserungsbedürftige Kommunikation zwischen den Eltern gefördert und der Elternstreit beendet würde. Das Kind fühle sich nicht durch Entscheidungen der Eltern belastet, sondern durch den Umstand, dass beide nicht miteinander reden. Dem Willen des nicht ganz sechs Jahre alten Kindes komme jedenfalls kein entscheidendes Gewicht zu. Altersgemäß werde die Fähigkeit zur Beurteilung tatsächlicher Umstände und erst recht hypothetischer Verläufe nicht ausgeprägt sein. Mit dem Ermessen der Bedeutung eines abstrakten Gedankenbildes wie dem Rechtsinstitut der elterlichen Sorge werde dem Kind zu viel abverlangt. Auch sonst seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, die gegen die gemeinsame elterliche Sorge sprächen. Daher sei auch im Beschwerdeverfahren nach § 155a Abs. 3 und 4. S. 1 FamFG in einem schnellen, schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

 

II.

 

Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

 

1. Das Oberlandesgericht hat seiner Entscheidung zutreffend die Vorschriften in der Fassung des Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern vom 16. April 2013 (BGBl. I S. 795) zugrunde gelegt. Dieses Gesetz ist zwar erst am 19. Mai 2013 und damit nach der Einleitung des erstinstanzlichen Verfahrens in Kraft getreten. Nach Art 229 § 30 EGBGB ist der Antrag des Vaters aber ab dem Inkrafttreten des Gesetzes als Antrag nach § 1626a Abs. 2 BGB zu behandeln. Da das Gesetz keine weitere Übergangsvorschrift enthält, sind dessen Regelungen auch in Verfahren anzuwenden, die bei Inkrafttreten noch nicht abgeschlossen waren.

 

2. Nach § 1626a Abs. 2 BGB überträgt das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge beiden Eltern gemeinsam, wenn die Übertragung dem Kindeswohl nicht widerspricht. Trägt der andere Elternteil keine Gründe vor, die der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen können, und sind solche Gründe auch sonst nicht ersichtlich, wird vermutet, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht. Nach § 1671 Abs. 2 BGB kann der Vater zudem die Übertragung der alleinigen Sorge beantragen, die mangels Zustimmung der Mutter dann zu erfolgen hat, wenn eine gemeinsame Sorge nicht in Betracht kommt und zu erwarten ist, dass die Übertragung auf den Vater dem Wohl des Kindes am besten entspricht (§ 1671, Abs. 2 Satz 2, Nr. 2 BGB).

 

a) Vorrangiger Maßstab der Entscheidung nach § 1626a Abs. 2 BGB ist das Kindeswohl (BT-Drucks. 17/11048 S. 14). Für die Prüfung, ob die Übertragung der gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht, gelten die zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB entwickelten Grundsätze.

 

aa) Wie das Oberlandesgericht nicht verkannt hat, ist die Vorschrift des § 1626a BGB Ausdruck des Kindeswohlprinzips, welches das Recht der elterlichen Sorge insgesamt beherrscht (vgl. § 1697a BGB). Das Gesetz beruht auf der Annahme, dass die gemeinsame elterliche Sorge grundsätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungen zu beiden Elternteilen entspricht. Daraus ergibt sich das gesetzliche Leitbild, dass grundsätzlich beide Eltern die gemeinsame elterliche Sorge für ein Kind tragen sollen, wenn keine Gründe vorliegen, die hiergegen sprechen.

Die Sorge ist den Eltern vom Familiengericht demzufolge auch dann gemeinsam zu übertragen, wenn sich nicht feststellen lässt, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl besser entspricht als die Alleinsorge der Mutter. Eine den Antrag auf gemeinsame Sorge ablehnende Entscheidung kann nur dann ergehen, wenn die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Eltern gemeinsam dem Kindeswohl widerspricht, also mit ihm unvereinbar wäre.

 

bb) Ebenso wie bei § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB ist auch bei der „negativen Kindeswohlprüfung“ nach § 1626a Abs. 2 BGB das Kindeswohl vorrangiger Maßstab für die gerichtliche Entscheidung. Der anzuwendende Maßstab für eine Zurückweisung des Antrags auf gemeinsame elterliche Sorge stimmt mit dem der Sorgerechtsübertragung bei Trennung sorgeberechtigter Eltern nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB überein. In beiden Fällen ist von der gemeinsamen elterlichen Sorge abzuweichen, wenn und soweit die Alleinsorge eines Elternteils dem Kindeswohl besser entspricht. Daher können die zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB entwickelten Grundsätze auch im Rahmen von  § 1626a Abs. 2 BGB angewendet werden.

Die Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist somit unter den gleichen Voraussetzungen abzulehnen, unter denen im Fall des § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGBdie gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben wäre.

 

cc) Dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen in § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB positiv und in § 1626a Abs. 2 BGB  negativ formuliert hat, berücksichtigt die unterschiedliche rechtliche Ausgangssituation, begründet aber im Ergebnis keine materiell-rechtlichen Unterschiede hinsichtlich der Ausübung der gemeinsamen Sorge durch beide Eltern. Während nach § 1626a Abs. 2 BGB zu entscheiden ist, ob die gemeinsame elterliche Sorge begründet werden soll, muss nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB geprüft werden, ob die bestehende gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben ist. In beiden Fällen ist letztlich zu entscheiden, ob im wohlverstandenen Interesse des Kindes die Eltern zukünftig die elterliche Sorge gemeinsam ausüben sollen oder ob die Sorge aus Kindeswohlgründen nur einem Elternteil allein zuzuweisen bzw. zu belassen ist. Dass in den Fällen des § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB im Gegensatz zum Fall des § 1626a Abs. 2 BGB von zusammenlebenden Eltern eine Sorgegemeinschaft bisher schon gelebt worden ist, ist zwar als tatsächlicher Gesichtspunkt zu berücksichtigen, besagt aber nichts zu dem anzuwendenden Maßstab, der in beiden Fällen der gleiche ist. Sowohl im Rahmen der erstmaligen Anordnung als auch bei der Aufhebung der bestehenden gemeinsamen elterlichen Sorge setzt eine Entscheidung gegen die gemeinsame elterliche Sorge die Feststellung voraus, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl widerspricht.

Auch nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB darf die elterliche Sorge nur dann einem Elternteil allein zugewiesen werden, wenn die Voraussetzungen der Ausübung der gemeinsamen Sorge fehlen. Damit ist sichergestellt, dass sich die Wahrnehmung des Elternrechts am Kindeswohl ausrichtet und dass die Rechte des Kindes Beachtung finden.  Die Alleinsorge ist daher anzuordnen, wenn die gemeinsame elterliche Sorge aus Kindeswohlgründen ausscheidet, also dem Kindeswohl widerspricht. Dem entspricht der Maßstab des § 1626a Abs. 2, S. 1 BGB, nach dem die alleinige Sorge nur aufrechterhalten bleibt, wenn das Gericht feststellt, dass die Übertragung der gemeinsamen Sorge auf die Eltern dem Kindeswohl widerspricht. Deshalb ist es auch sachgerecht, in beiden Fällen dieselben Grundsätze anzuwenden.

 

dd) Dass im Rahmen von § 1626a Abs. 2 BGB und § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB keine unterschiedlichen materiell-rechtlichen Voraussetzungen gelten, wird durch den systematischen Zusammenhang der beiden Gesetzesnormen gestützt. Wären an die Übertragung der Sorge auf die Eltern gemeinsam geringere Anforderungen zu stellen als an die Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge im Fall des § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB, so könnte es zu dem widersprüchlichen Ergebnis kommen, dass nach Übertragung der Sorge auf die Eltern gemeinsam auf entsprechenden Antrag der Mutter dieser die alleinige Sorge nach § 1696 Abs. 1, S. 2, § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB ohne Bindung an die vorherige Sorgerechtsübertragung sogleich wieder zurückübertragen werden müsste.

 

b) Die Entscheidung hängt in den beiden von § 1626a Abs. 2 BGB erfassten Verfahrenskonstellationen davon ab, ob die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Eltern gemeinsam dem Kindeswohl widerspricht.

 

aa) Wie bei § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB sind alle für und gegen die gemeinsame Sorge sprechenden Umstände im Rahmen einer einzelfallbezogenen und umfassenden Betrachtung gegeneinander abzuwägen.

Gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls sind die Erziehungseignung der Eltern, die Bindungen des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie die Beachtung des Kindeswillens. Diese Kriterien stehen aber nicht kumulativ nebeneinander. Jedes von ihnen kann im Einzelfall mehr oder weniger bedeutsam für die Beurteilung sein, was dem Kindeswohl entspricht. Zu berücksichtigen sind dabei auch die durch Art. 6 Abs. 2, S. 1 GG gewährleisteten Elternrechte.

 

bb) Bei der Entscheidung über die Anordnung oder Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist auch zu berücksichtigen, wenn es im Verhältnis der Eltern an einer Grundlage für ein Zusammenwirken im Sinne des Kindeswohls fehlt. Ein nachhaltiger und tiefgreifender Elternkonflikt kann zur Folge haben, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl widerspricht.

 

(1) Das Vorliegen eines Elternkonflikts oder die Ablehnung der gemeinsamen elterlichen Sorge durch die Mutter sprechen für sich genommen allerdings noch nicht gegen die gemeinsame elterliche Sorge (BT-Drucks. 17/11048 S. 17). Allein die Verweigerungshaltung eines Elternteils ist kein entscheidender Gesichtspunkt dafür, dass die Beibehaltung oder Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl widerspricht. Dass Eltern in Einzelfragen verschiedener Meinung sind und ihre Meinungsverschiedenheiten im Einzelfall streitig ausgetragen haben, genügt ebenfalls nicht, um die gemeinsame elterliche Sorge abzulehnen. Es gehört zur Normalität im Eltern-Kind-Verhältnis, dass sich in Einzelfragen die für das Kind beste Lösung erst aus Kontroversen herausbildet. Hierdurch können sogar mehr Argumente abgewogen werden als bei Alleinentscheidungen und so dem Kindeswohl besser entsprechende Ergebnisse erreicht werden. Insbesondere sieht das Gesetz für einzelne kontrovers diskutierte und von den Eltern nicht lösbare Fragen mit § 1628 BGB ein geeignetes Instrumentarium vor.

 

(2) Die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung setzt allerdings ein Mindestmaß an Übereinstimmung in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge und insgesamt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus.

Die gemeinsame elterliche Sorge ist daher nicht anzuordnen, wenn eine schwerwiegende und nachhaltige Störung auf der Kommunikationsebene der Eltern vorliegt, die befürchten lässt, dass den Eltern eine gemeinsame Entscheidungsfindung nicht möglich sein wird und das Kind folglich erheblich belastet würde, würde man die Eltern zwingen, die Sorge gemeinsam zu tragen. Maßgeblich ist, welche Auswirkungen die mangelnde Einigungsfähigkeit der Eltern bei einer Gesamtbeurteilung der Verhältnisse auf die Entwicklung und das Wohl des Kindes haben wird. Die Gefahr einer erheblichen Belastung des Kindes kann sich im Einzelfall auch aus der Nachhaltigkeit und der Schwere des Elternkonflikts ergeben.

 

(3) Eine vollständige Kommunikationsverweigerung der Eltern muss allerdings nicht gegeben sein. Die Kommunikation der Eltern ist bereits dann schwer und nachhaltig gestört, wenn sie zwar miteinander in Kontakt treten, hierbei aber regelmäßig nicht in der Lage sind, sich in der gebotenen Weise sachlich über die Belange des Kindes auszutauschen und auf diesem Wege zu einer gemeinsamen Entscheidung zu gelangen. Dann ist zu prüfen, ob hierdurch eine erhebliche Belastung des Kindes zu befürchten ist.

Entgegen einer in der Rechtsprechung vertretenen Meinung muss die Belastung des Kindes nicht bereits tatsächlich bestehen. Es genügt die begründete Befürchtung, dass es zu einer solchen Belastung kommt.

Dafür genügt die begründete Besorgnis, dass die Eltern auch in Zukunft nicht in der Lage sein werden, ihre Streitigkeiten in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge konstruktiv und ohne gerichtliche Auseinandersetzungen beizulegen. Denn ein fortgesetzter destruktiver Elternstreit führt für ein Kind zwangsläufig zu erheblichen Belastungen. Notwendig ist hierfür die Einschätzung im Einzelfall, ob der Elternkonflikt so nachhaltig und so tiefgreifend ist, dass gemeinsame, dem Kindeswohl dienliche Entscheidungen der Eltern in den wesentlichen Belangen der elterlichen Sorge auch für die Zukunft nicht gewährleistet sind.

Ebenfalls nicht erforderlich ist die teilweise geforderte zusätzliche Feststellung einer günstigen Prognose der Alleinsorge eines Elternteils dahingehend, dass die Eltern aufgrund der gerichtlichen Entscheidung für die Alleinsorge ihren Streit nicht fortsetzen werden. In die Abwägung ist vielmehr einzubeziehen, ob durch die Alleinsorge die Konfliktfelder zwischen den Eltern eingegrenzt werden, was für sich genommen bereits dem Kindeswohl dienlich sein kann, während bereits das Risiko, dass das Kind durch die Begründung der gemeinsamen Sorge verstärkt dem fortdauernden Konflikt der Eltern ausgesetzt wird, dem Kindeswohl entgegenstehen kann.

 

(4) Zu den wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge, für die ein Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten gefordert werden muss, gehören alle nach § 1687 Abs. 1, S. 1 BGB gemeinsam zu treffenden Entscheidungen, zu denen entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts auch die Grundentscheidungen über den persönlichen Umgang des Kindes mit dem nicht betreuenden Elternteil zählen. Die Art und Weise, wie die Eltern insoweit in der Lage zu gemeinsamen Entscheidungen sind, kann bei der Gesamtabwägung nicht unberücksichtigt bleiben.

 

c) In verfahrensrechtlicher Hinsicht bestehen bei der Übertragung der Sorge auf die Eltern gemeinsam nach § 1626a Abs. 2 BGB gegenüber den Fällen des § 1671 BGB Besonderheiten im Hinblick auf den Umfang der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung.

 

aa) Während nach § 1671 Abs. 1 BGB, abgesehen vom Fall der Zustimmung des sorgeberechtigten Elternteils, keine Einschränkungen der Amtsermittlungspflicht sowie der gebotenen Anhörung Verfahrensbeteiligter und des Jugendamts vorgesehen sind, genügt es gemäß § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB für die gerichtliche Übertragung der elterlichen Sorge auf die Eltern gemeinsam bereits, dass der andere Elternteil keine Gründe vorträgt, die der Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen können, und solche Gründe auch sonst nicht ersichtlich sind. Dem entspricht die verfahrensrechtliche Regelung in § 155a Abs. 3 FamFG. Danach soll das Gericht in den Fällen des § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB im schriftlichen Verfahren ohne Anhörung des Jugendamts und ohne persönliche Anhörung der Eltern entscheiden. Die persönliche Anhörung des Kindes ist allerdings durch die Regelung nicht eingeschränkt.

Da nach § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB bereits die Möglichkeit ausreicht, dass die Gründe einer gemeinsamen Sorge entgegenstehen, sind an deren Darlegung keine hohen Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist, dass sich aus den dem Gericht vorliegenden Entscheidungsgrundlagen aufgrund konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte die Möglichkeit ergibt, dass die gemeinsame elterliche Sorge nicht mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Hinreichende Anhaltspunkte sind nicht erst dann gegeben, wenn der Tatsachenvortrag genügt, um in einer den Maßgaben der Rechtsprechung folgenden umfassenden Abwägung festzustellen, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl widerspricht. Unbeachtlich sind dagegen Umstände, die keinen Bezug zum konkreten Fall oder dem Wohl des Kindes aufweisen. Es genügt aber, wenn konkrete tatsächliche Umstände dargelegt werden oder erkennbar sind, die ein Indiz gegen die gemeinsame elterliche Sorge sein können. Liegen hinreichende Anhaltspunkte vor, löst dies die Amtsermittlungspflicht aus und führt zur im normalen Sorgerechtsverfahren durchzuführenden umfassenden Prüfung.

 

bb) Durch die in § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB, § 155a Abs. 3 FamFG getroffene Regelung schränkt das Gesetz den Amtsermittlungsgrundsatz nach §§ 26, 155 ff. FamFG. Es sieht unter den genannten Voraussetzungen eine hinreichende tatsächliche Entscheidungsgrundlage auch ohne erschöpfende Sachverhaltsaufklärung als gegeben an. Bereits auf Grundlage dieser nur eingeschränkt durchgeführten Amtsermittlung greift die in § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB vorgesehene (Tatsachen-)Vermutung, dass die Übertragung der Sorge auf die Eltern gemeinsam dem Kindeswohl nicht widerspricht.

 

cc) Außerhalb von § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB sieht das Gesetz hingegen keine Einschränkungen der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht vor. Für das Verfahren in allen anderen Fällen - wie auch nach einer Überleitung gemäß § 155a Abs. 4 FamFG - bestehen dann keine Besonderheiten. Es gelten wie im Verfahren zur Entscheidung nach § 1671 Abs. 1, S. 2, Nr. 2 BGB die allgemeinen Verfahrensvorschriften, insbesondere hat nach § 26 FamFG eine erschöpfende Amtsaufklärung aller für das Kindeswohl erheblichen Umstände zu erfolgen.

Eine in Rechtsprechung und Literatur mit dem Oberlandesgericht vertretene Ansicht, nach der die Neuregelung ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, einen Vorrang oder eine Vermutung zugunsten der gemeinsamen elterlichen Sorge begründe, finden im Gesetz keine Stütze.

 

Das Bundesverfassungsgericht und der Senat haben einen so verstandenen Vorrang der gemeinsamen elterlichen Sorge in Fällen des 1671 BGB abgelehnt.

 

Davon ist der Gesetzgeber auch bei der Neufassung des § 1626a BGB ausgegangen. Die Begründung des Gesetzentwurfs verweist darauf, dass außerhalb der ausdrücklich geregelten Vermutung des § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB die Prüfung, ob die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht, unter uneingeschränkter Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes erfolgen muss. Eine auf unvollständiger Sachverhaltsermittlung beruhende Vermutung stellt das Gesetz somit nur in  § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB für den dort genannten Fall auf. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass es im Übrigen bei der Anwendbarkeit der allgemeinen Verfahrensvorschriften verbleibt Der Sachverhalt ist dann vom Familiengericht umfassend und ergebnisoffen aufzuklären.

Erst wenn sich nach erschöpfender Sachaufklärung nicht feststellen lässt, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht, ergibt sich aus der negativen Formulierung der Kindeswohlprüfung eine gesetzgeberische Entscheidung zur (objektiven) Feststellungslast. Aus dieser insoweit entsprechend dem gesetzlichen Leitbild zu Lasten der Aufrechterhaltung der Alleinsorge der Mutter getroffenen Regelung folgt, dass im Zweifelsfall die Übertragung der elterlichen Sorge auf die Eltern gemeinsam auszusprechen ist.

 

3. Gemessen an diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht zu Unrecht von einem Fall des § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB ausgegangen. Folglich durfte es auch nicht im vereinfachten Verfahren nach § 155a Abs. 3 FamFG entscheiden. Ob ein Wechsel vom Regelverfahren zum vereinfachten Verfahren in der Beschwerdeinstanz zulässig war, braucht daher nicht entschieden zu werden.

Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts hat die Mutter Gründe vorgetragen, die der gemeinsamen elterlichen Sorge entgegenstehen können. Solche Gründe ergeben sich zudem mit hinreichender Deutlichkeit aus den Stellungnahmen des Verfahrensbeistands und des Jugendamts, welche das Amtsgericht auch zu einer Zurückweisung des Antrags veranlasst haben.

 

Dass hinreichende Gründe im Sinne von § 1626a Abs. 2, S. 2 BGB vorgetragen und ersichtlich sind, ergibt sich überdies bereits aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses. Denn das Oberlandesgericht ist selbst von einer offensichtlich unzulänglichen, dringend verbesserungsbedürftigen Kommunikation zwischen den Eltern ausgegangen und hat darin eine Ursache gesehen, von der zu befürchten sei, dass sie Leid und Kummer des Kindes bewirke. Damit liegen ausreichende Gründe vor, die die Durchführung des Regelverfahrens mit einer vollständigen Amtsaufklärung erfordern. Ob dieses letztlich zu einer Ablehnung der gemeinsamen Sorge führt, ist erst nach erschöpfender Aufklärung zu beurteilen. Denn jedenfalls aufgrund des von ihm erreichten Aufklärungsstands war dem Oberlandesgericht eine abschließende Würdigung und eine Übertragung der elterlichen Sorge auf die Eltern gemeinsam verwehrt.

 

III.

 

Die Beschwerdeentscheidung ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. In Anbetracht der bislang unvollständigen Tatsachenaufklärung ist die Sache noch nicht zur Endentscheidung reif. Sie ist daher an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6, S. 1 FamFG).

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Oberlandesgericht nunmehr das Verfahren nach § 155 FamFG durchzuführen hat und hierzu gemäß § 68 Abs. 3 FamFG - zumal bei einer Abweichung von dem vorinstanzlichen Ergebnis - sämtliche gebotenen Anhörungen der Verfahrensbeteiligten und des - bisher mangels Antrags gemäß § 162 Abs. 2, S. 2 FamFG nicht förmlich beteiligten - Jugendamts durchzuführen hat.

Dabei wird auch das betroffene Kind anzuhören sein. Entgegen einer in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung kann auf die Anhörung von Kindern, die das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, grundsätzlich nicht verzichtet werden. Gemäß § 159 Abs. 2 FamFG ist ein solches Kind dann persönlich anzuhören, wenn die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn eine persönliche Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist. Die Neigungen, Bindungen und der Kindeswille sind gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls.

 

Die persönliche Anhörung dient neben der Gewährung des rechtlichen Gehörs vor allem auch der Sachaufklärung. Dass die Mutter als Inhaberin der alleinigen Sorge das am Verfahren beteiligte Kind in diesem Verfahren grundsätzlich vertritt, kann die persönliche Anhörung nicht ersetzen.

Die Anhörung kann auch regelmäßig nicht deswegen abgelehnt werden, weil dem Kind die abstrakte rechtliche Konstruktion der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht vermittelbar sei. Dies verkennt, dass es Aufgabe des Gerichts ist, das Verfahren, insbesondere die Umstände sowie die Art und Weise der Kindesanhörung, unter Berücksichtigung des Alters, des Entwicklungsstands und der sonstigen Fähigkeiten des Kindes so zu gestalten, dass das Kind seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden lassen kann. Denn in der Regel wird eine Entscheidung den Belangen des Kindes nur dann gerecht, wenn es diese Möglichkeit hat. Wegen fehlender Äußerungsfähigkeit wird nur bei sehr jungen Kindern oder bei aufgrund besonderer Umstände erheblich eingeschränkter Fähigkeit des Kindes, sich zu seinem Willen und seinen Beziehungen zu äußern, auf die Anhörung verzichtet werden können. Regelmäßig wird der Richter erst im Verlauf der Anhörung feststellen können, ob und in welcher Weise er mit dem Kind über den Verfahrensgegenstand sprechen kann. Selbst wenn das Kind seine Wünsche nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen kann, ergeben sich möglicherweise aus dem Verhalten des Kindes Rückschlüsse auf dessen Wünsche oder Bindungen. Gegen die Anhörung des Kindes spricht auch nicht, dass es vielen Kindern gleichgültig ist, ob ein Elternteil allein oder beide gemeinsam die elterliche Sorge ausüben. Erst durch eine persönliche Anhörung kann überprüft werden, ob auch das im Einzelfall betroffene Kind so empfindet.

 

Die Belastung für das Kind kann nur im Ausnahmefall ein Grund sein, gemäß § 159 Abs. 3, S. 1 FamFG von der Anhörung abzusehen. Eine eventuell gegebene Belastung des Kindes ist durch die Gestaltung der Anhörung auf ein zumutbares Maß zu reduzieren.

 

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